Der Wahnsinn nimmt kein Ende in der Physiotherapie:

Mein Statement zum Jahresende, und sorry, leider geht es nicht kürzer.

 

„und wieder einmal hat man die nächste Chance verstreichen lassen“:

 

Es ging groß durch die Presse: nach intensiven Verhandlungen konnten sich die Spitzenverbände mit den Krankenkassen auf eine Erhöhung von 6,44% ab Januar 2024 einigen.

 

Erste Intuition: Jubel allerorten…………nach einigem Nachdenken: siehe Überschrift, und eigentlich die Fortführung einer geradezu beklagenswerten Vorstellung der letzten Jahre.

 

Und vor allen Dingen kann ich die Euphorie der Verbände und einzelner Kollegen/innen überhaupt nicht verstehen. Den Krankenkassen zu signalisieren, das sei ein euphorisierendes Ergebnis ist aus meiner Sicht fatal. Die werden bei den nächsten Verhandlungen versuchen unter diesem Ergebnis zu bleiben, denn bei 6,44% wird ja bereits gejubelt. Da wird in anderen Branchen aber anders verfahren, dort schießt man weit übers Ziel hinaus, um ein Ergebnis zu erzielen von dem wir nur träumen können.

 

Würde man in den Verbänden äußern: in der momentanen Situation war kein besseres Ergebnis erzielbar, wir mussten wieder mehrere Kröten schlucken, wir konnten wieder hier und da keine Einigung erzielen, es wird dem System Geld verweigert, weil es an anderen Stellen im Haushalt gebraucht / verschleudert wird, die Prioritäten scheinen anders gesetzt zu werden…….was auch immer, es würde die Situation besser beschreiben.

 

Man muss sich einmal vorstellen aus welchen unterirdischen Vergütungssituationen wir eigentlich kommen. Ich will nicht die Verhandlungsergebnisse der letzten Jahr wiederholen, mit all ihren unsäglichen Verhaltensweisen der Kassenvertreter, denn das muss man Ihnen zugute halten: sie machen auch nur einen Job. Aber Patientenbetreuung ist kein Job. Patienten mit ihren Erkrankungen oder Defiziten sind keine kalkulierbaren Positionen aus irgendeiner Tabelle mit einem zugewiesenen Wert.

 

Aber trotzdem: dieser Wert beträgt nach diesem „sensationellen“ Ergebnis: 

allgemeine Krankengymnastik: 27,80 Euro, Behandlungszeit im Mittel: 20 Minuten, incl. aller Formalitäten, Behandlungsplanung…..etc. also, so ein Statement  aus den früheren Verhandlungen:

 

12,5 Minuten Therapie

7,5 Minuten Administration

 

…..was für ein Armutszeugnis diese Situation wieder nicht zu ändern. Wir müssen endlich damit aufhören, uns diese katastrophalen Zustände ständig schönzureden. In einem Land, in dem die massive Inflation bei den Nahrungsmitteln z.B. dazu führt, dass im vergangenen April im Mittel 17,2 Prozent mehr Geld gezahlt werden musste als zum gleichen Zeitpunkt des Jahres 2022. Energie sich um „nur“ 6,8 Prozent verteuerte, (hier dürfte die Preisdeckelung für Strom, Erdgas und Fernwärme der Grund sein, dass die Preissteigerungen nicht noch höher ausgefallen) sind, sind 6,44% wahrlich kein Grund zum Jubeln.

 

Vor allen Dingen müssen wir, und das wirklich mal öffentlichkeitswirksam, im Bereich unseres Berufsstandes Fragen stellen:

 

Hausbesuchsproblematik: für die Wegezeit, die oftmals genauso viel Zeit in Anspruch nimmt wie die Behandlung, gibt es eine wesentlich schlechtere Vergütung, wen wundert es dann, dass Versorgung solcher Patienten teilweise überhaupt nicht mehr stattfindet (kann). Welcher Praxisbesitzer kann es sich schon leisten jedes Mal die Wegezeit zu subventionieren. Wegezeit + Behandlung vs. Behandlung + Behandlung = ergibt eine Differenz von 6,43 Euro pro Behandlung. Bei 40 betreuten Patienten pro Woche ergibt das einen Umsatzverlust von 257,20 Euro pro Woche …..x 52 Wochen = 13374,40. Die soll dann der Praxisbetreiber gefälligst verschmerzen. Und 10 Minuten Hinweg und 10 Minuten Rückweg sind bei der heutigen Verkehrssituation wahrlich nicht viel Zeit.

 

Hausbesuche in Pflegeheimen: warum können wir es uns nicht leisten, dass Menschen die teilweise 50 Jahre Renten- Kranken- und sonstige Beiträge in unserem Land gezahlt haben, von den Rezeptgebühren befreit werden? Physiotherapeuten müssen über Angehörige, Betreuer, Taschengeldkonten etc. versuchen an die Rezeptgebühren zu kommen, werden aber mit einem bürokratischen Aufwand belegt, der seinesgleichen sucht. Rezeptgebühren, Quittungen, Datenschutzgrundverordnungen, Behandlungsverträge, Betreuer- /Angehörigengespräche

 

Verordnungskontrolle: wie kann es sein, dass in einer Arztpraxis ein zertifiziertes Verwaltungsprogramm verwendet wird, dass dann nicht den Vorgaben des Heilmittelkataloges entspricht? Und der Behandler soll dann, evtl. analog noch prüfen, ob das Rezept den Vorgaben entspricht. Herzlich willkommen in der digitalen Welt. Krankenkassen, oder deren externen Prüfstellen,  machen sich bisweilen offensichtlich einen Spaß daraus, erbrachte Leistungen zu verweigern, weil der Arzt ein Kreuz oder einen Buchstaben fasch gesetzt hat, und der Physiotherapeut es nicht erkannt hat. 

 

Zuzahlung: wie lange sollen wir noch unfreiwillig und unentgeltlich die Arbeit der Krankenkassen machen und dem Geld hinterherlaufen, das Patienten wieder mal „gerade nicht dabei“ haben? Krankenkassen weigern sich seit Jahren diese Zuzahlungen selbst einzukassieren. Warum? Offensichtlich ist der bürokratische Aufwand für die Kassen zu hoch. Physiotherapeuten sollen das gefälligst mit übernehmen. Die haben ja Zeit?

 

Energieintensive Leistungen wurden in der Vergangenheit nicht angepasst, was nützt da eine 6,44 %ige Erhöhung, wenn teilweise Kosten beim Grundversorger um bis zu 35% explodieren? Fangoöfen laufen bisweilen noch mit bis zu 4 kW. Aber gut, wird ja aus Budgetgründen eh nicht mehr verordnet.

 

Wenn ich die letzten Jahre zurückverfolge und mir vor Augen halte, dass ein umfangreiches WAT Gutachten gemacht wurde hinken wir immer noch weit hinter einer adäquaten Vergütungsentwicklung hinterher. Das wird aber beflissen unter den Tisch gekehrt. Was hat dieses Gutachten eigentlich gekostet, hab ich mich neulich gefragt, nachdem es keinerlei Verwendung mehr findet.

 

Fachkräftemangel? Wer glaubt denn wirklich, dass eine Akademisierung dazu führt, dass der akademisierte Kollege für 27,80 € einen 20-Minuten-Termin absolviert. Man muss ja eher befürchten, dass die Akademisierung dazu führt, dass für diese Vergütung erst recht niemand mehr den Beruf ergreift. Denn, berechtigterweise, sollte der akademisierte Kollege ja etwas mehr verdienen. …..oder gehen die dann alle zu den Krankenkassen in die Verwaltung?

 

Zeitfaktoren: warum um alles in der Welt darf ich nicht selbst entscheiden, oder gar der Patient,  wann ich einen Doppeltermin absolviere? Viele unserer Patienten würden eine solche Idee als äußerst sinnhaft erachten. Die haben wir nämlich befragt. Ein Vorgang, der den Kassen fremd zu sein scheint. 

 

Warum werden regionale Unterschiede nicht gewichtet? Kollegen in Ballungsgebieten werden mit Gehältern und z.B. Mietzinsen belastet, die teilweise jenseits jeglicher Bewältigbarkeit liegen. Die Krankenkassen nehmen in diesen Regionen aber über die prozentuale Beteiligung Ihrer Beiträge an den höheren Gehältern deutlich mehr ein. Dieses Geld fließt aber wohl eher in die Gehälter Ihrer Angestellten in diesen Regionen (Ballungsraumzulage?), als in die „Leistungserbringer“. Kein Mensch regt sich darüber auf ?!

 

Das Schlimme ist, ich könnte noch unendlich weitermachen. Aber hat es an den relevanten Stellen Einfluss? Nach 33 Jahren Selbstständigkeit, und den damit verbundenen Entwicklungen,  muss man einfach konstatieren: es scheint politischer Wille zu sein, dass sich nichts ändert. Ansonsten würden man die Rahmenbedingungen so verändern, dass sich die Krankenkassen eben nicht auf eine Position zurückziehen können, die erlaubt, dass der Geselle, der sich in der Kfz-Werkstatt um mein Hausbesuchs-FZ kümmert, inzwischen einen Stundenumsatz (ohne Ersatzteile) jenseits von 190 Euro macht, Physiotherapeuten aber mit 83,40 € (3 x 27,80) geradezu in Jubelstürme ausbrechen sollen. 

 

Ich sehe nichts von sozial-liberal, christlich-sozial, sozial-demokratisch, christlich-demokratisch. Unser Beruf ist verkommen zu einer Unternehmung, die darauf abzielt wie ich am besten Gewinn erziele, oder am besten so wenig wie möglich dafür aufwende. 

 

,,,, Ich sehe nur, dass eine Praxis wie unsere ausschließlich überleben kann, weil leidensfähige Mitarbeiter/innen weit über das eigentlich erträgliche Maß hinaus o.a. Dinge kompensieren. Und kommt mir jetzt bitte Keiner mit der Idee: na ja Ihr habt ja auch Privatpatienten, da könnt ihr höher abrechnen. Die werden nämlich auch immer weniger, weil sich Kollegen/innen aus dieser Situation verabschieden, und nur noch Privatpraxen betreiben, und den anderen „Leistungserbringern“ die Kompensations- mechanismen wegnehmen. Ich bin aber auch auf keinen Fall Physiotherapeut geworden um mich auf dem sog. 2. Gesundheitsmarkt zu orientieren, wie es mir von allen Seiten immer wieder geraten wird (egal ob Unternehmensberater, Berufvertretungen oder Fortbildungseinrichtungen). Ich will keine Wässerchen und Sälbchen verkaufen, radiale Stoßwellen meinen Patienten offerieren, Nahrungsergänzungsmittel zum Mittelpunkt meiner Therapie machen, und und und. Wir wollen einfach nur eine ehrliche, anständige und fundierte Physiotherapie abliefern. 

 

Die Kompensationsmechanismen, die die Praxisbesitzer noch haben gehen zu Ende. Ich denke 2024 wird für viele von uns eine Zäsur werden. Unsere Patienten werden, und müssen, merken, dass die Zeiten härter werden. Nix ist mehr mit Kulanz, wenn man einen Termin versäumt. 3 versäumte Termine pro Tag (27,80 x 3 = 83,40 €) ergeben am Jahresende schnell mal die Summe von 21 767,40 € Ausfall. Das können die Praxisbetreiber nicht mehr verschmerzen. Da kann die Oma noch so dement sein. Irgendwann kommt Jemand auf die Idee und selektiert Rezepte nach „Wert“ und nicht nach Diagnose oder Dringlichkeit. Praxiszeiten für Kassenpatienten werden eingeschränkt. 

 

Das wahre Dilemma aber ist, dass sich viele Physios nicht vorstellen können einen anderen Beruf zu ergreifen, zumindest die nicht, die ihn mit „Leib und Seele“ betreiben. Und auf eine Stufe stellen mit denjenigen, die über uns und unsere Patienten entscheiden, wollen wir schon gar nicht. 

 

Sorry, wie gesagt, kürzer ging es nicht. 

Euch allen ein gutes neues Jahr.

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